Baumblüte hinter Glas

Liebe und Tod im Seniorenheim

Lockdown-Tagebuch 2020

Der über Deutschland verhängte Lockdown im Frühjahr 2020 hat zu furchtbaren, teils menschenunwürdigen und vor allem gesetzeswidrigen Einschnitten im Leben vieler Menschen in den Seniorenheimen geführt. Wie ein eisiger Frost brachen die rigorosen Maßnahmen der Regierung „Zur Eindämmung des Coronavirus“ in den Alltag ahnungsloser Menschen, die hoffnungsvoll dem Frühling entgegensahen, sie hatten gerade den Kampf gegen den Winter gewonnen. – Doch die dunkle Jahreszeit sollte für sie jetzt erst beginnen.

Mit dem Lockdown und den damit einhergehenden Besuchs- und Kontaktverboten im Heim, war vielen von Ihnen auf einen Schlag das Wichtigste in ihrem Leben genommen, all jenen, die mit ihren Lieben ein inniges Miteinander gewohnt waren, Mütter und Väter mit ihren Kinder und Enkeln, Freunde, Paare. Mein Lebensgefährte, der nun schon das dritte Jahr im Haus Rixdorf lebte, fühlte sich bisher dort geborgen. Zumal er seine Liebste an seiner Seite hatte, die ihn stets an den Wochenenden und oft auch noch mehrmals in der Woche besuchte.

Plötzlich unterlag das gesamte Leben einem unsichtbaren Regime. Mein an Demenz erkrankter Freund konnte nicht verstehen, warum die Besuche jetzt plötzlich so kurz ausfielen, warum er seine Liebste nicht mehr berühren konnte, in den Arm nehmen. Jetzt stand er dort, mit zum Empfang ausgebreiteten Armen, so wie er es gewohnt war und sofort kam eine Schwester angestürmt, um den nötigen „Abstand“ zu „garantieren“.

Jetzt stand mein Schatz da, so wie Jesus am Kreuze. Ein paar Meter entfernt seine Liebste mit einem Mundschutz und Einweghandschuhen, als wolle sie gerade eine Operation beginnen. Am 15. März 2020 begann ich meine Tagebuchnotizen: „ .. Mein Freund durfte kurz vor die Tür kommen. Freudestrahlend und etwas erkältet kam er mir entgegen.. Es war kalt, ein kühler Märzwind wehte. Wir drückten uns ein bisschen unauffällig von der Seite. Er wollte wieder rein, es war kein Platz für uns in dieser Welt. Keine Bank, keine Sonne, kein Auto, das uns irgendwo hinfuhr.. Wohin auch, da in Berlin alles geschlossen war. Immerhin haben wir uns gesehen, gedrückt. Ich fuhr mit dem Regio 2 Stunden nach Mecklenburg zurück.“

Eine Woche später, am 23. März wurde die allgemeine Ausgangssperre in Deutschland verhängt. Obgleich ich Mecklenburg nicht mehr verlassen durfte, setzte ich mich ins Auto. „Ich hatte Panik. Ich dachte, vielleicht komme ich ja überhaupt nicht mehr nach Berlin, oder auch nicht mehr zurück! Ich wusste nicht was wird und was ich denken sollte.. Der Eingang des Heimes war mit Verbotsschildern zugeklebt. Ich rief die Station 4 an und bat, Friedrich herunterzuschicken. Der Herr von der Rezeption kam mir kopfschüttelnd entgegen. Hier darf keiner rein! Ich weiß, ich weiß. Friedrich kam mit seinem Rollator. Er konnte gar nicht begreifen, dass ich nicht herein konnte. Da standen wir beide hinter Glas und machten Faxen. Ich gab mein Tütchen mit der Schokolade hinein und gelbe Forsythien, die ich unterwegs gepflückt hatte. Dann durfte ich abziehen.
Nun war ich zum zweiten Mal diese lange Strecke gefahren, um Friedrich zu sehen und fand diese schlimmen Umstände vor, wir sahen uns nur hinter Glas. Und ganz kurz. Er konnte das alles gar nicht begreifen und wurde wieder weggeführt. Ich war so fassungslos und wie gelähmt. Ich war völlig erschöpft nach der Reise. Und noch erschöpfter, ihn dort zurückzulassen.“

Friedrich und ich haben uns vor 10 Jahren kennengelernt. Der einstige Rechtsanwalt lebte damals noch allein in seiner kleinen Neuköllner Wohnung, ich arbeitete als Klavierlehrerin in Mecklenburg. Künstlerische Ambitionen verliehen unserer Verbindung Flügel, mussten doch stets weite Strecken zurückgelegt werden für ein gemeinsames Treffen. In meinem Haus in der Feldberger Seenlandschaft hielt er sich gerne auf – vor allem zur Zeit der Obstbaumblüte.

Auch dieses Ostern wollten wir gern wie gewohnt auf dem Lande verbringen. Ich telefonierte mit der Pflegedienstleiterin. Sie machte mir kurzerhand klar, dass er nicht rauskönne. Und wenn, dann könne er eben nicht mehr zurück ins Heim. Es hörte sich an wie eine Erpressung. Ostern war doch immer unser Fest. Ich fühlte Wut und Ohnmacht. Der Gedanke, dann wieder die weite Strecke von Mecklenburg zu fahren, um ihn dann ein paar Minuten hinter der Glastür zu sehen, ließ mich schlichtweg verzweifeln. Friedrichs Lebensmut war gesunken, er weinte am Telefon. Seine Stimme klang brüchig. Ihm fehlten Nähe und Zuversicht. Ist es wieder wegen dieses Virus, fragte er mich. Seine Frage klang wie die eines Kindes, völlig ungläubig und vor allem hilflos. Dann schlug seine Stimme um in Aggression, er werde dem Heim jetzt den Krieg erklären.

Ostern stand vor der Tür. Ich kaufte zwei Fläschchen Sekt und fuhr nach Berlin. Es war so traurig und entwürdigend. Er kam mit seinem Rollator, hatte natürlich wie immer vergessen, warum eine solche Maßnahme getroffen wurde. Er strahlte und öffnete seine Arme zur Begrüßung. Er erwartete natürlich, dass ich hineinkomme, aber dann kam bereits eine Schwester auf die „gefährliche“ Situation zugestürzt. Friedrich geriet außer Fassung, der alte Anwalt war in ihm aufgestanden, er zählte die herbei eilende Pflegerin wegen versuchter Freiheitsberaubung an, die Worte sind mir noch im Ohr: “Es macht Ihnen wohl Spaß, die Menschen zu reglementieren, das ist Freiheitsberaubung, wissen Sie das?“ Die Schwester stürzte entrüstet auf mich zu und sagte, das sei aber keine gute Idee von mir heute hier her zu kommen!, „gerade bei Herrn L. Der an Demenz erkrankt sei“. Mir fehlten die Worte. Ja, gerade! Sagte ich. Die freundliche und verständnisvolle Sozialhelferin kam zum Glück dazu und brachte Friedrich in die Bibliothek, wo sie ein Fenster zur Straße öffnete. Friedrich saß auf einem Stuhl, dazwischen ein Tisch, draußen vor dem Fenster stand ich. So hatten wir ein halbes Stündchen. Wir schauten uns eine Weile sehr ernst an, beide spürten wir eine verzweifelte Ohnmacht.“

Dass man mit so drakonischen Maßnahmen mit Bewohnern umging, die an Demenz erkrankt waren, war unerträglich. Dazu kam die Tatsache, dass wir ein Paar waren. Ich rief jetzt des Öfteren im Heim an, um zu erfahren, ob sich die Situation schon geändert habe, vor allem aber um zu erfahren, wie es meinem Schatz ging. Anscheinend wurde ich allmählich zu einem Störenfried. Die Heimleiterin verwies mich stets auf die Anzahl ihrer Heimbewohner und sie könne nicht auf jeden eingehen, ich müsse mich schon an die Gegebenheiten halten. Und die hießen zweimal in der Woche (!) für eine halbe Stunde Besuch.

Anfang Mai erlitt Friedrich eine Panikattacke. Er wurde abends zur Abklärung mit dem Notdienst in die Neurologie des Vivantes Krankenhaus gebracht. Er wurde jedoch am selben Abend wieder entlassen. Die nächsten Tage wunderte ich mich, dass er stets bei Anrufen auf seinem Zimmer anzutreffen war, was sonst gar nicht der Fall war, weil er sich gern im Gemeinschaftsraum aufhielt. Meine Nachfrage auf der Station ergab, dass er für 14 Tage in Quarantäne sei! Das sei hier die Regel. Ich war fassungslos. Er hatte doch gar keinen Kontakt mit Corona-Infizierten! Ich rief abermals die Pflegedienstleiterin an, die mir lediglich die „Regel“ bestätigte.
Welch beispiellose Willkürmaßnahme, Persönlichkeitsverletzung und Freiheitsberaubung. Friedrich musste den ganzen Tag in seinem Zimmer verbringen, still auf seinem Bett oder in seinem Sessel am Fenster sitzen. Wie kann man so etwas verantworten bei einem an Demenz erkrankten Menschen, der von seinen Kontakten, Ritualen und persönlichen Begegnungen lebt und seinem Bewegungsdrang nachkommen muss. Ich rief das Gesundheitsamt Neukölln an, wollte mir die Notwendigkeit dieser Zwangsmaßnahme erklären lassen und vor allem bewirken, dass sie durch einen Test abgekürzt wird. Dort zweigte man sich erstaunt darüber, dass eine Quarantäne nach dem Besuch eines Notarztes verhängt wurde. Eine solche gesetzliche Regelung gab es offenbar nicht!

Nach 8 Tagen wurde Friedrich negativ getestet, er musste aber noch einen zweiten Test in seinem Zimmer abwarten..! Nach 14 Tagen Eingesperrtsein ohne Verbrechen konnte Friedrich nicht mehr mit dem Rollator gehen. Beim nächsten Besuch, der abermals in der Bibliothek, wo zwei Tische längs zwischen uns gestellt wurden, eine Gouvernante uns zugeteilt, wurde Friedrich mit dem Rollstuhl gebracht.

Seinen 76. Geburtstag feierten wir im engen Familienkreise vor dem Fenster der Bibliothek. Zwei Schwestern überwachten die „Feierlichkeiten“. Vor dem Fenster sagen wir (seine Tochter und ich) mit Mundschutz zur Gitarre: „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“. Ein Coronageburtstag wie er im Buch steht. Es war Friedrichs letzter Geburtstag. Unvergesslich in seiner Absurdität und überspielten Traurigkeit.

Einen Tag später schrieb ich einen Brief an den Pflegebeauftragten der Bundesrepublik Andreas Westerfellhaus. Ich hielt die Bevormundung, Reglementierung unseres Zusammenlebens nicht mehr aus. „Ich bin ratlos und verzweifelt, wenn ich sehe und erlebe, mit welchen „Regeln“ die „Risikogruppen“ in den Heimen geschützt werden sollen. Für meinen Partner hat das nichts mit Menschenwürde zu tun.“ Seine prompte Antwort bestätigte mir die unhaltbaren Zustände in den Heimen, gab mir aber keine konkrete Hilfe zur Veränderung meiner Situation. Ich telefonierte nun mittlerweile mit verschiedenen Ansprechpartnern im Gesundheitsamt Neukölln, die Verständnis für meine Situation zeigten, aber mir anscheinend nicht durchgreifend helfen konnten, da mich das Haus Rixdorf mit seinem proklamierten „Hausrecht“ auflaufen ließ.

Das Frühjahr stand jetzt in voller Blüte und Friedrich äußerte den Wunsch „nur einen halben Tag mit mir in der Sonne zu sitzen“. Ich hatte den nächsten Besuch schon in der Bibliothek angemeldet, wollte dann aber aufgrund seines Wunsches umdisponieren, denn es war schönstes Wetter. Mit meiner Bitte hatte ich ein mittleres Beben ausgelöst. Die Pflegedienstleiterin persönlich holte Friedrich aus dem Bibliothek, wo er schon „bereitgestellt“ war jagte mit seinem Rollstuhl (zum widerholten Mal ohne Fußstützen!) durch die Cafeteria, Friedrichs Fuß hakte an einem Teppich hinter, so dass er vor Schmerz schrie, im Hof angekommen, verschlimmerte sich die Situation noch, die Sonne ging weg und kühler Wind kam auf, Friedrich hatte Schmerzen im Nacken, wir haben die halbe Stunde nicht mal ausgeschöpft. Ein Aufpasser war uns beigeordnet, der dummes Zeug redete, von seiner Oma, die er 6 Wochen nicht gesehen hätte, weil er sie schützen wollte.
Hätten all die Aufpasser bei den Besuchen der Angehörigen ihre Arbeitsstunden zusammengelegt, hätte man wohlmöglich auch die Wochenenden (!) für Besuche einrichten können, oder zu Pfingsten! Denn Besuchszeiten gab es nur Mo.- Fr., also an „Arbeitstagen“. Auch mein Angebot, bei der Betreuung meines Freundes mitzuwirken, lehnte das Heim ab.

Am nächsten Abend ging es meinem Freund schlecht. Er konnte den Telefonhörer nach dem Gespräch nicht auflegen. Ich rief die Stationsschwester an. Sie reagierte unfreundlich. Erst hätte sie noch einen Patienten. Ich war tiefbeunruhigt. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass Friedrich mit einem Schlaganfall ins Krankenhaus gekommen ist. Aber erst am nächsten Mittag. Wie ich dem Arztbrief später entnehmen konnte, wurde eine „Hemiparese des linken Armes“ bereits am Abend vorher dokumentiert. Ein Notarzt wurde jedoch nicht gerufen! Im Krankenhaus fand ich meinen Lebensgefährten halbseitig gelähmt vor, er konnte nur mühsam sprechen.

Ich hoffte, dass er weiter im Krankenhaus mit Reha Maßnahmen behandelt wird. Hier konnte ich ihn 4–5 Stunden am Tag besuchen, ohne Reglement (!!). Wir konnten Nähe nachholen. Das tat uns so gut. Nach ein paar Tagen wurde er jedoch zurück ins Heim entlassen. Ein „Rehapotential“ sahen die Ärzte nicht. Ein Spießrutenlauf begann für mich, da ich nur täglich zwei Stunden bei ihm sein durfte. Immerhin hatte ich diese Besuchszeit mit Hilfe meines Anwaltes erreichen können. Meine Besuche verfolgte man mit der Stechuhr. Welch ein menschenunwürdiger durch nichts zu rechtfertigender Formalismus. Mein Lebensgefährte lag im Sterben und ich durfte nicht uneingeschränkt bei ihm sein, so wie es auch die neue Eindämmungsverordnung vorschrieb. Ein Verhalten, das an Grausamkeit nicht zu überbieten war. Und zudem rechtswidrig!

So wurde der Tod nicht nur für meinen Freund, der unter unsäglichen Schmerzen litt und durch unsachgemäße Pflege inzwischen auch unter einem Dekubitus zu leiden hatte, eine Erlösung, sondern auch für seine Partnerin. Ich schrieb am 30. Juni in mein Tagebuch: „.. Ich durfte jetzt bei ihm sein! Mein Herz schlug ruhiger, als ich neben ihm saß. Wie absurd, dass der Tod jetzt erträglicher war, als dieser grausame, unmenschliche Stress, von einem Sterbenden weggerufen zu werden, den ich erleben musste. Mir brannte die Situation Tränen in die Augen. Welche Verbrecher, dachte ich. Was haben sie mir die ganze Zeit zugemutet, dass ich jetzt den Tod meines geliebten Freundes als Erlösung ansehen muss. Nicht nur für ihn, auch für mich. Niemand wird jetzt kommen und sagen „Frau L., Sie müssen jetzt aber gehen“. Jetzt waren sie wohl froh, dass ich da war. Oder auch nicht. Oder gar nichts. Ich atmete durch, welch eine Ruhe. Welch Frieden. Nichts steht jetzt mehr zwischen uns. Niemand kann uns mehr etwas vorschreiben. Niemand wird auch nur wagen, jetzt ein Wort zu sagen. Welch ein absurder Moment des Glücks. Unbegreiflich und nicht in der Seele zu fassen.“ „..Und dann war es still. Mein liebster Schatz war gegangen. Ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Die Schwester meinte, ich soll nicht weinen, die Seele schwebe jetzt über ihm. Mein Herz wollte erstarren über ihre Worte. Soll sie mich doch weinen lassen, wenn mein Liebster stirbt. Wie unfassbar. Für einen kurzen Moment empfand ich, dass selbst im Tod des Reglement hier weiter herrscht, wie ein grausames, ungeschriebenes Gesetz.

Doch dann ließ man mich mit ihm allein. Ich saß erstarrt und voller Tränen bei meinem toten Liebling. Ich konnte nicht verstehen. Und hatte doch das Gefühl, dass dies kein natürlicher, dass dies ein erzwungener Tod, ein getriebener Tod war. Dass dies eine seelische Ermordung war.“

© Sabine Lange, Lockdown-Tagebuch 2020 (gekürzt) Alle Rechte bei der Autorin. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung der Autorin unzulässig.